Höhlenwanderung Tauferberg und der große Stein
Aus der Tiefe der Zeit
Eigentlich sollten wir hier nicht sprechen. Eigentlich sollten wir die Natur für sich sprechen lassen. Mit dem Ruf des Tannenhähers redet sie zu uns, mit dem Rauschen des Windes in den Baumgipfeln - auf Augenhöhe. Aber es klappt nicht. Zu stark sind die Eindrücke an Nikis Lieblingsplatz, zu viel möchte ich darüber erfahren. Also reden wir. Man braucht keine besondere Beziehung zueinander zu haben an diesem magischen Ort mitten im Tauferberg, schon die Wanderung durch die dunklen Höhlen schafft Nähe, erfordert und fördert Vertrauen. Ob in einer Gruppe oder nur zu zweit. Und es gibt niemanden, der nicht das Gleiche spürt.
Zur Person Niki Leiter
- Jahrgang: 1976
- Familienstand: verheiratet, zwei Kinder
- Tätigkeit / Ehrenämter: Seit 22 Jahren im Hotel Tauferberg beschäftigt - Haupttätigkeit Rezeptionist, am Abend häufig auch Barkeeper. Außerdem: Geprüfter Bergwander- und Naturparkführer. Ehrenamt: Bergrettung und Lawinenkommission
Zum Lieblingsplatz
- Ausgangspunkt: Parkplatz Ortsteil Lehen (Fußballplatz)
- Gehzeit hin & zurück: 2:30 - 3:00 h
- Schwierigkeitsgrad: leicht
- Höhenunterschied: ca. 200 Meter
Wie aus der Tiefe der Zeit
Es geschah vor knapp 10.000 Jahren. Durch den Köfler Bergsturz entstand das Hochplateau Niederthai. Die Urgewalt entsprach einem Erdbeben der Stärke 7.5 auf der Richterskala. Die Masse donnerte zu Tal, verteilte sich auf eine Fläche von etwa 12 km² und formierte sich auf der gegenüberliegenden Seite zu einem Waldrücken, dem „Tauferberg“. Für Niki Leiter ist es „ein ganz besonderer Ort“. Ein Zauberberg aus Erdlöchern, Grotten und haushohen Granit-Felsbrocken, die sich wie von Riesenhand verstreut im Bergsturzwald türmen. Verwunschen, geheimnisvoll. Ein kalter Hauch weht aus den Grotten wie aus der Tiefe der Zeit. „Auf vielen Spaziergängen habe ich versucht, den Eiskeller zu finden, von dem alle wissen, dessen genauen Ort aber niemand kennt oder beschreiben kann“ sagt Niki. „In diesem Felsloch hat man früher Fleisch gelagert – als natürlicher Kühlschrank. Der Tauferberg war unsere Spielwiese. Mit meinen Freunden habe ich dort viel Zeit verbracht, habe das Abenteuer gesucht, neue Wege entdeckt, die so verschlungen sind und verwinkelt, dass kein Mensch sie kennt.“ Ohne ein bestimmtes Ziel sind sie damals losgezogen, über Felsen geklettert, auf Baumstämmen balanciert, die nie ein Mensch aus dem Weg geräumt hat, bis sie zu den Höhlen kamen. „Man muss immer auf den Boden schauen und trittsicher sein,“ sagt Niki. „Allein würde jemand den Zugang durch die dichten Beerenbüsche und den naturbelassenen Wald kaum finden.“ Und erst recht nicht den höchsten Punkt am Ende des Höhlenwegs. Seinen Lieblingsplatz.
Stille ist der Sound der Berge
Der große Stein will entdeckt, der mystische Platz erobert werden. Wir waten durch dichte Beerenbüsche, bücken uns unter tiefen Decken aus Fels, tasten uns an dunklen Wänden entlang zurück ans Licht, hangeln uns über schmale Brücken aus Granit. Finden tatsächlich den Ausgang aus diesem jahrtausendealten Labyrinth. Und dann liegt er vor uns – am höchsten Punkt der Höhlenwanderung. Mächtig, beeindruckend, unfassbar schön in seiner schlichten Form: Der große Stein. Nicht zu verwechseln mit dem „Hohen Stein“, der an einer anderen Stelle des Tauferbergs zu finden ist. Fast völlig glatt und schräg steigt er nach oben an, um dann mit scharfer Kante wie abgesägt senkrecht nach unten abzufallen. Vom Gletscher geschliffen, von Urgewalten bewegt. Ein riesiger Monolith. Einen grünen Moosteppich rollt er vor uns aus, wir nehmen die Einladung an und besteigen die sanfte Schräge. Ganz einfach geht es, die vielen schmalen Rinnen machen ein Abrutschen fast unmöglich – selbst für ungeübte Berggeher. Bis zur Kante wagen wir uns vor, bis ich beginne zu begreifen. Warum dieser Stein Nikis Lieblingsplatz ist. Weil jeder Künstler für seine Form einen Preis gewonnen hätte. Und weil er ein phantastischer Aussichtspunkt ist! Vor uns liegt das weite Sonnenplateau von Niederthai, gesäumt von imposanten Gipfeln. Niki kennt sie alle: „Der Blick reicht vom Bergle über Narren-, Poschach- und Peistakogel ins Weite Kar, zum Zwieselbacher Rosskogel und den Brand bis zum Hemerkogel. Ein Breitwandpanorama wie aus einem Heimatfilm. Nur in echt. Und ohne akustischen Gefühlsverstärker. Den braucht man hier nicht. Stille ist der Sound der Berge. „Obwohl der Stein doch sehr nah an den markierten Wegen liegt, ist er total abgeschieden. An diesem Platz gibt es keine Ablenkung“, sagt Niki. „Man kann hier einfach nur nachdenken, in der Sonne liegen oder den Ausblick genießen.
Magische Kräfte an einem magischen Ort?
Mit meiner Liebe zu diesem ganz speziellen Stein führe ich das Erbe meiner Tante Edeltraud fort“, erzählt Niki. „Wenn sie mal Abstand gewinnen wollte vom Alltag, nutzte sie jede freie Minute, um hierher zu gehen.“ Und dann schweigt er. Lässt den Film, der gerade in seinem Kopf abläuft, bis zum Ende abspulen. Um nach einer ganzen Weile zu sagen: „Jeden Winkel auf dem Höhlenweg habe ich mit meiner Tante kennengelernt. Jetzt führe ich selber unternehmungslustige Gäste dorthin.“ Dass Niki ehrenamtlich bei der Bergrettung arbeitet, vermittelt Sicherheit. „Allein der Weg, egal ob man vom Tauferberg Rundweg abzweigt oder auf kürzester Strecke vom Forstweg direkt zum Stein aufsteigt, ist ein ganz besonderes Erlebnis.“ Stimmt! Dann lässt er mich teilhaben an einer besonders amüsanten Szene seines Films, der noch immer in Endlosschleife durch Nikis Herz und Hirn spult: „Früher ist auch meine Oma immer in die Beeren gegangen, die rund um den Stein wachsen: Heidelbeeren und Granten, wie wir in Österreich die Preiselbeeren nennen. Ich habe die Oma an eine Stelle gebracht, wo sie besonders üppig wachsen und ihr für alle Fälle ein Handy gegeben. Ich selber bin zum Stein hinaufgelaufen, um ihr von oben beim Pflücken zuzuschauen. Dann habe ich sie angerufen und gesagt: „Ich habe das Gefühl, dass der Eimer erst halbvoll ist, wieso machst du jetzt schon eine Pause?“ In dem Glauben, dass ich längst wieder zu Hause sei, fragte meine Oma erstaunt: ,Woher weißt du das?‘ ,Das spüre ich‘, antwortete ich und ließ sie für einen Moment in dem Glauben, dass ich über magische Kräfte verfüge“.
Kraftplatz, Märchenwald, Abenteuerspielplatz
Tatsächlich besitzt der Stein etwas Mystisches. Ein Versammlungsort für alle guten Geister des Waldes. Ich schließe die Augen, lasse Nikis Lieblingsplatz auf mich wirken und höre ihn nach einer Weile sagen: „Auf diesem Stein finde ich die totale Ruhe. Und wenn ich wieder heimgehe, fühle ich mich deutlich wohler als vorher.“ So oft Niki sich auch auf den Weg macht zur Höhlenwanderung, nie lässt seine Begeisterung nach: „Jedes Mal aufs Neue ist die Wanderung beeindruckend. Für die Erwachsenen ist es die Geschichte des Tauferbergs in Verbindung mit dem Erleben dieser wilden, ursprünglichen Landschaft, die sie staunen lässt. Für die Kinder ist es ganz einfach abenteuerlich, in der von Höhlen und geheimnisvollen Pfaden geprägten Umgebung herum zu klettern. Für die einen bedeutet mein Lieblingsplatz ein Kraftort, ein Märchenwald, ein Abenteuerspielplatz und für die anderen eine Wanderung. Für mich ist es oft alles zusammen.“ Niki pflückt mir einen frischen Tannenzapfen, aus dessen Spitze transparentes Harz quillt. Wie ein Mini-Eiszapfen sieht das Harz aus, noch Wochen später duftet die ganze Wohnung danach.